Wie schnell doch die Zeit vergeht: Am 4. Dezember 1963 erfolgte während des II. Vatikanischen Konzils die feierliche Schlussabstimmung des ersten Konzilstextes “Die Konstitution über die heilige Liturgie“ (“Sacrosanctum Concilium”) mit 2147 Ja- gegen 4 Nein-Stimmen: am gleichen Tage wurde die Konstitution feierlich verkündet. So lautet z.B. der Artikel 36: “Der Gebrauch der lateinischen Sprache soll in den lateinischen Riten erhalten bleiben, soweit nicht Sonderrecht entgegensteht.” Heute, nach knapp 40 Jahren, ist die lateinische Sprache fast überall verschwunden, und auch der klassische römische Ritus bedarf einer besonderen Erlaubnis.
Der Artikel 116 im VI. Kapitel über die Kirchenmusik lautet: “Die Kirche betrachtet den Gregorianischen Choral als den der römischen Liturgie eigenen Gesang; demgemäß soll er in ihren liturgischen Handlungen, wenn im übrigen die gleichen Voraussetzungen gegeben sind, den ersten Platz einnehmen.” Doch wo wird der Gregorianische Choral heute noch gesungen?
In unserer St. Jodokus Gemeinde hat der Regionalkirchenmusiker Georg Gusia schon 1989 eine kleine Schola aufgebaut, um wenigstens einmal monatlich ein lateinisches Choralamt zu singen. Für diejenigen, denen der gregorianische Choral inzwischen fremd geworden ist, hier ein kurzer geschichtlicher Abriß:
Früher feierte man Papst Gregor I. (um 540-604) als den “Erfinder” der nach ihm benannten “Gregorianik”. In Wirklichkeit ist der Gregorianische Choral jedoch noch viel älter. Seine Wurzeln gehen bis zum synagogalen Gesang zurück. Papst Gregor der Große hat vielmehr das damals mündlich überlieferte Gesanggut seiner Zeit gesammelt, verbessert und vermehrt. Sein Verdienst war die Neugestaltung der Gottesdienste und die Gründung von Schulen und Chorgemeinschaften.
Der Gregorianische Choral war im Mittelalter eine Kunst für (in den “scholae”) geschulten Spezialisten, die das gleiche Ansehen hatten wie die Gelehrten, die schreiben und lesen konnten. Trotzdem konnte auch das Volk der Analphabeten aktiv mitsingen, da hierfür einfache Gesänge und Sequenzen geschaffen wurden.
Die Handschriften, aus denen uns die Gesänge bis heute überliefert wurden, entstanden erst sehr viel später, nämlich im 10. Jahrhundert. Diese Codices sind die ältesten Aufzeichnungen abendländischer Musik überhaupt und daher von unschätzbarem Wert für die Musikwissenschaft.
Eine der berühmtesten Handschriften in der gregorianischen Forschung ist der Codex 121 aus der Stiftsbibliothek St. Gallen aus dem Jahre 923. Die Noten waren damals noch nicht erfunden. Die Mönche schrieben über die lateinischen Texte sogenannte Neumen (Zeichen), aus denen der Melodieverlauf und Rhythmus ersichtlich wurden. Und diese Neumen werden auch heute noch neben den später entwickelten Quadratnoten auf vier Linien beim Gesang berücksichtigt.
Unsere Schola besteht weder aus Romantikern ((aber auch) Anm. Georg Gusia), die den guten alten Zeiten nachtrauern, noch aus Musikwissenschaftlern, denn außer unserem Kantor hat keiner Gregorianik studiert. Wir sind uns jedoch bewußt, daß wir gemäß dem II. Vaticanum den Auftrag haben, eine tausendfünfhundertjährige Tradition römischer Liturgie nicht einfach sterben zu lassen. Es ist schon ein erhabenes Gefühl zu wissen, in ununterbrochener, lückenloser Fortdauer die gleichen Melodien zu singen und zu hören, die einst die gesamte römisch-katholische Kirche täglich zelebrierte. Dabei legen wir keinen Wert auf ein konzertantes Auftreten, sondern sehen in dem gregorianischen Choral nur eine besondere Form des Gebetes, wie der hl. Augustinus einmal gesagt hat: “Wer singt, betet zweimal.”
Wolfgang Winkel |